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RUSSISCHE MARKTWIRTSCHAFT
Ein Kongreß-Bericht von Helmut Höge
„Alles hat Einfluß aufs Öl- und Gasgeschäft!“
(T. Abelaine, ein Londoner Broker)
Die Marktwirtschaft ist anscheinend genauso eine Utopie wie die Planwirtschaft. Und beide scheitern immer an der Unreife ihrer Mitmenschen, wenn nicht gar ihrer Macher. Einige Branchen befinden sich derzeit in einem geradezu glastnosthaften „Umbruch“ – von dieser zu jener Utopie. Kurz vor dem Milleniumswechsel fand dazu die dritte internationale Gazprom-Konferenz statt. Die OAO Gazprom ist „die erste marktwirtschaftlich organisierte Einheit Rußlands“.
Im Sommer 1999 lud die OAO Gazprom – der Welt größte Gaskonzern – das auf Aktienbasis privatisierte ehemalige Energieministerium der UDSSR – rund 100 Gas- Manager und -Experten ins Berliner Hotel Adlon. In der Erdgas-Förderung und Verwertung (Up-, Mid- und Downstream-Bereich genannt) gab es „früher“ fast weltweit nur nationale Monopole. Im Gegensatz zur Kali-, Stahl- und Elektro-Industrie etwa mußte die Gasindustrie nicht einmal mit den unerlaubten Mitteln des Kartellzusammenschlusses die Marktwirtschaft aushebeln – und etwa die Welt in „producing“ und „non- producing – consuming – countries“ aufteilen. Stattdessen hatten die Hauptverbraucherländer bzw. Ihre Monopolbetriebe (in der BRD die Ruhrgas AG) „langfristige Verträge“ mit ihren Lieferländern (Holland und der UDSSR z. B.).
Im Zuge der „Reaganomics“ wurde jedoch in England und USA u.a. auch die Gasindustrie „dereguliert“. Die Gas-Versorgung würde dadurch effektiver – und billiger, so lautete zumeist die Begründung. Die beiden Nationen kann man zwar nicht mit den festland-europäischen Ländern vergleichen: England fördert sein eigenes Nordsee-Gas und in den USA gab es auch zuvor schon über 1000 Gasproduzenten. Dennoch beschloß die EU 1998 ebenfalls eine „Richtlinie“ zur Einführung der Marktwirtschaft bei der Gas-Versorgung.
In Deutschland war bereits mit der Auflösung der Sowjetunion ein rudimentärer Markt entstanden. Der damals in Rußland geschaffene Gazprom-Konzern gründete mit der BASF-Tochter Wintershall die Wingas AG sowie zwei Handelshäuser, um fortan ihrem größten deutschen Gasabnehmer, der Ruhrgas AG, Konkurrenz zu machen: 15% Marktanteile wollte man dem Monopolisten abjagen – mit günstigeren Gaspreisen. Für 4,5 Milliarden DM wurden daraufhin erst einmal neue Speicher und Pipelines kreuz und quer durch das wiedervereinigte Deutschland gebaut. Außerdem baute Gazprom mit westlichen Milliardenkrediten auch noch die Yamal-Pipeline von Westsibirien nach Deutschland – durch Polen, das dafür Transitgebühren bekommt. Da die Profite im Gasgeschäft vor allem im Handel liegen (die Produzenten bekommen nur etwa 30%) und außerdem der Gasverbrauch aus Umweltschutzgründen immer mehr zunimmt (z.B. in Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen), stieg der Gazprom- Konzern inzwischen auch noch anderswo in den Handel ein: In Rußland selbst zunächst in Verbindung mit einigen konvertierten Rüstungskombinaten in den Gasgeräte-Bau und -Vertrieb (vom Zähler bis zum Herd und dezentralen Datschenheizungen): „Um von Importen unabhängig zu werden“, wie ein russischer Wissenschaftler, eher patriotisch denn marktwirtschaftlich gestimmt, erklärte. Zusammen mit dem armenischen Staat und mithilfe eines türkischen sowie eines italienischen Konzerns baut Gazprom außerdem die sogenannte „Blue Stream“ durch das Schwarze Meer in die Türkei. Und dann sind noch zwei weitere Pipelines, eine im Joint-Venture mit Finnland nach Schweden, und eine andere durch die Ostsee nach Peenemünde geplant (um Polen herum). Vom Fernen Osten und Sachalin aus expandiert der Konzern überdies auch noch nach Asien – mit einer Art „Gazprom 2“ – sowie Partnern in Südkorea, China und Japan.
In Rußland beträgt das gesamte Pipelinenetzwerk inzwischen 152.000 Kilometer, gesteuert wird es von einem zentralen Dispatcher – im neuen Gazprom-Hauptquartier in Moskau. Der Konzern beschäftigt 350.000 Mitarbeiter, er übernahm komplette staatliche Forschungseinrichtungen, will sich jedoch demnächst sozialverträglich „verschlanken“. 125 Milliarden Kubikmeter werden insgesamt jährlich von der Gazprom exportiert. Westeuropa deckt seinen Gasbedarf inzwischen hauptsächlich in Algerien und Rußland. Wobei Deutschland bei der Gazprom- Außenhandelstochter ZGG an erster Abnehmer-Stelle steht. Die derzeitige Haupt-Pipeline (bestehend aus 19 Leitungen) führt von Westsibirien durch die Ukraine und die Tschechoslowakei nach Ostdeutschland.
Wegen des von der USA im „Kalten Krieg“ verhängten Röhrenembargos hatten seinerzeit die sozialistischen Bruderländer diese Leitung inklusive Verdichterstationen und unterirdische Speicher mitgebaut. Die DDR ließ sich dieses „FDJ-Zentralobjekt“ einige Milliarden Mark kosten. Seine Fertigstellung fiel mit der Auflösung der DDR nahezu ineins, die letzten Bauarbeiten – im Ural und in der Ukraine – wurden unter der Regie der Bundesregierung zu Ende gebracht. Die heute dem Land Bayern gehörende DDR-Baufirma lud mich vor einigen Jahren zu einer Baustellen-Besichtigungstour in den Ural ein, wo sie zuletzt quasi nebenbei noch Siedlungen für die aus Deutschland abgezogene Rote Armee errichtete. Mein Bericht darüber erschien 1997 unter dem Titel „Berliner Ökonomie“ im Basisdruck-Verlag.
Die Ukraine stellt heute für die Gas-Konzerne primär ein „Transit-Problem“ dar, weil dort wiederholt illegal Gas abgezapft wurde. Ein Manager des italienischen ENI-Konzerns meinte auf dem Gas-Kongreß, in Zukunft würde „Sabotage“ sogar zu einem „Schlüsselwort“ werden. Die algerische Leitung läßt man gedankenloserweise bereits von zu Sicherheitsspezialisten konvertierten Fremdenlegionären bewachen.
Die „Security of Supply“ – das war dann auch das Hauptthema auf der Konferenz. Dabei wurde jedoch kaum über die politische Instabilität der Lieferländer diskutiert, auch nicht über die zahlreichen Versuche, den russischen Giganten Gazprom zu zerschlagen. Und nur einmal kam man kurz auf die marktgesetzgeberischen West-Initiativen zu sprechen, mit denen für die abtrünnigen Gas-Republiken Kasachstan und Turkmenistan, das seit 1997 eine Pipeline in den Iran und damit an den Persischen Golf besitzt, Durchleitungsrechte für die Gazprom-Leitungen quasi erzwungen werden sollten.
Genau solche Rechte hatte sich die Wintershall gegenüber der Ruhrgas AG zunächst erstreiten müssen: Es macht keinen Sinn, zu jedem Industriekunden eine weitere Pipeline zu verlegen. Zum Präzedenzfall wurde das von der BASF übernommene DDR-Chemiekombinat Schwarzheide, daß die Wintershall AG über das ostdeutsche Leitungsnetz der „Verbundnetz Gas“ (VNG) mit eigenem Gas beliefern wollte. Wintershall besitzt 16% Anteile an der VNG. Deren Quasi-Mehrheitsgesellschafter, die Ruhrgas AG, verweigerte jedoch den Transport des Gases durch das VNG-Netz – indem sie dafür laut BASF „Freudenhausgebühren“ verlangten. Überhaupt gaben sich anfänglich die Kontrahenten – Ruhrgas und Wingas – äußerst kämpferisch: „Wer uns herausfordert, sollte wissen, daß wir unsere Position bis zum letzten Blutstropfen verteidigen werden“, sagten die einen und die anderen konterten: „Wir werden bis zu den Knien durch Blut waten müssen. Aber unser Blut wird es nicht sein“. Im Boxsport nennt man so etwas eine „Sensationspaarung“. Es sei daran erinnert, daß auch das Wort „Kartell“ aus dem Duellwesen stammt.
Für die Ruhrgas AG, 1926 aus dem „Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat“ hervorgegangen, war es bereits der dritte „Gaskrieg“. Der erste begann, als die „Essener“ verlauten ließen, daß sie nun – im Preiskampf gegen die regionalen Gaswerke – das gesamte Reichsgebiet mit dem Abfallprodukt Gas – aus ihren Kokereien und Hütten – beliefern wollten. Viele Städte mochten jedoch ihre Versorgung nicht einem Privatunternehmen anvertrauen. Der Durchbruch kam erst mit dem „Verräter“ Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln. 1962 war die Ruhrgas AG Monopolist bei der Produktion und Versorgung der Städte und Industrien mit Kokereigas. Da entdeckten Exxon und Shell in Holland ein riesiges Erdgasfeld – und die „Essener“ gerieten plötzlich selbst „in die Rolle eines vom Markt verdrängten Opfers“, wie der Firmenchronist Günter Karweina 1993 schrieb.
Der zweite Gaskrieg ging um den Erhalt wenigstens des „Liefermonopols“: „Vier Jahre blockt die Ruhrgas alle Ansätze der Öl- und Gasmultis zum Bau eigener Leitungen ab“, gleichzeitig wird das bundesdeutsche Gasnetz zu einer „Drehscheibe der europäischen Versorgung“ ausgebaut. Demarkations- und Konzessionsverträge mit kleineren inländischen Ferngasgesellschaften sowie den regionalen bzw. kommunalen Verteilern sorgen dafür, daß sich niemand preiszerstörerisch ins Gehege kommt.
Den dritten „Gaskrieg“ zettelte dann die BASF an: Weil ihr das von der Ruhrgas AG gelieferte Gas zu teuer wurde, wollten sie sich 1989 über eine eigene Pipeline von Ludwigshafen bis nach Emden mit billigem norwegischen Erdgas versorgen. Aus „Loyalität zur Ruhrgas AG“ weigerten sich die Norweger jedoch, dem Chemiekonzern Gas zu verkaufen. Noch 1996 schimpfte der Wintershall-Vorstandsvorsitzende Detharding während einer „Ölmesse“ in Oslo öffentlich: „Wenn die Ölgesellschaft sich derart vom deutschen Gasgiganten Ruhrgas ausnutzen läßt, sind Statoil und norwegisches Erdgas die Verlierer“.
Als die BASF verkündete, sie werde zukünftig zusammen mit dem Gazprom-Konzern russisches Export-Gas vermarkten, waren die „Essener“ über diese Nachricht zunächst derart schockiert, daß sie der BASF noch am selben Tag die Gaslieferungen um 40% kürzten. Das zuständige Landgericht untersagte ihnen dann jedoch jegliche Lieferkürzung: „Ein krasses Beispiel dafür, wozu eine Monopolstellung verführen kann,“ kommentierte hernach ein BASF-Sprecher.
Ende 1996 meinte der Herausgeber eines Gas-Branchendienstes jedoch bereits – auf einer in Berlin tagenden Gas-Konferenz der Internationalen Energie-Agentur (IEA,Paris): „In einigen Jahren werden die beiden Kontrahenten bestimmt wieder friedlich an einem Tisch sitzen – und Geschäfte miteinander machen“. Inzwischen exportierte auch England – über seine neue Pipeline „Interconnector“ – Gas aufs Festland. Und die Gas-Richtlinie der EU sowie die deutsche Energierechtsreform befanden sich in Vorbereitung. Als „schlichtweg unrichtig“ bezeichnete der Wintershall-Chef 1998 „in diesem Zusammenhang die Behauptung“, daß im Falle einer Durchleitungsmöglichkeit ein Übergewicht der Erdgasproduzenten gegenüber den Abnehmerländern entstünde. „Das Gegenteil ist richtig. In dem Moment, in dem es nicht mehr notwendig ist, ausschließlich eigene neue Erdgasleitungen zu bauen, werden allein in Europa über ein Dutzend weitere kleinerer Erdgasproduzenten am Markt teilnehmen können – und so für zusätzlichen Wettbewerb sorgen. Großen Gasverbrauchern, insbesondere den Stadtwerken, eröffnet sich somit die Chance, sich ihre eigenen Erdgasproduzenten zu suchen. Ohne Durchleitungsrecht könnten solche Produzenten die Stadtwerke nicht beliefern“.
Neben argumentativen Abwehrschlachten akquirierte die Ruhrgas AG aber auch noch massiv – und kaufte sich z.B. in etliche inländische sowie osteuropäische Stadtwerke ein. „Wenn Verkäufer und Einkäufer von Gas identisch sind, dürfte klar sein, daß ein neuer Anbieter keine faire Chance erhält und die Verbraucher weiterhin mit zu hohen Gaspreisen leben müssen“, erboste man sich bei der Wintershall AG – erwarb daraufhin aber selbst Anteile an zwei Gasversorgungsunternehmen: in Tschechien. Zuvor hatte die Wintershall sich bereits in Rumänien engagiert.
Im April 1999 unterzeichnete die Konzernmutter BASF mit der Gazprom überdies einen weitreichenden Vertrag zur strategischen Zusammenarbeit – für „mehrere Milliarden Dollar“ – u.a. um eine Off-Shore-Lagerstätte bei Archangelsk gemeinsam auszubeuten. Damit war die Wintershall AG auch in die Produktion eingestiegen. Im Zuge einer „Realteilung“ der „Deutschen Erdölversorgungsgesellschaft: Deminex“, an der die Wintershall mit 18,5% beteiligt war, hatte man ihr bereits laufende Aktivitäten bei Wolgograd und in Aserbaidschan übertragen. Hinzu kamen dann noch erhebliche Investitionen in Argentinien.
In den letzten Jahren ist der Gaspreis rapide gefallen – aber nicht wegen der Liberalisierung und Privatisierung, sagen die Gas-Kaufleute, sondern zusammen mit dem Erdöl-Preis, an den er noch immer gekoppelt ist – was bedauert wird. Um so mehr als sich Europa langsam auch für Flüssiggas-Tanker aus Nigeria, Abu Dhabi, Katar und Oman „rechnen“ könnte. Über die Pipelines kommt das Gas aus Rußland, Algerien, Norwegen, England und Holland, dessen „Gasunie“ immer noch das größte europäische Versorgungsunternehmen ist. Die „British Gas“ wurde mittlerweile aufgeteilt. Obwohl auch Vertreter aus diesen Ländern auf der Konferenz anwesend waren, ging es doch nicht um die Bildung eines Gaskartells – in Analogie zur OPEC etwa, dem Kartell der erdölexportierenden Länder, gegen das die erdölverbrauchenden Industrieländer – während der 2. Ölkrise – die „Kriegsmaschine“ Internationale Energieagentur (IEA) ins Leben riefen. Heute soll es im Gegenteil um marktwirtschaftliche Überwindung aller Kartellisierungen gehen. Selbst der IEA-Vertreter auf dem Kongreß sprach sich dafür aus: „Inzwischen arbeiten wir sogar mit der OPEC zusammen“. Ein einst am Aluminium-Kartell beteiligter Manager war denn auch sehr erstaunt, wie die ganzen „Gegner“ im Hotel Adlon teilweise heftig ihre „Partner“-Probleme am „Runden Tisch“ diskutierten: „Das wäre in unserer Branche ganz undenkbar“ meinte er.
Ein Gazprom-Direktor behauptete gar, er hätte nicht einmal etwas gegen eine Konkurrenz in Rußland. Sie würden selbst laufend Betriebe dort ausgründen, aber in Nordsibirien beispielsweise hätten sie einfach keine Leute für solche Unternehmungen gefunden, deswegen müßten sie dort immer noch alles selber machen: „Jedes Land muß seinen eigenen Weg finden, man kann nicht auf Teufel komm raus einfach alles privatisieren, die Karten neu verteilen – so wie in unserer Ölindustrie etwa. Am Ende sind dann die Karten alle weg, und die Spieler auch“. Ähnlich hatte hier die Treuhand bereits Ostdeutschland privatisiert, ein großer Teil ihrer Manager machte dann – über die TOB (Treuhand-Osteuropaberatung“) – in Rußland weiter.
Auch damit, daß jetzt statt langfristiger immer mehr kurzfristige Lieferverträge abgeschlossen werden, wollen sich die Gazprom- Kader nicht abfinden. Alles entwickelt sich jedoch dahin, daß es auch für das Gas wie beim Öl einen regelrechten „Spotmarkt“ geben wird. Bis jetzt ist trotz des Versprechens, mit zunehmender Marktwirtschaft wird alles billiger, das nordamerikanische Gas immer noch doppelt so billig wie das deutsche. Und auch in England ist das Gas für den Endverbraucher deutlich günstiger als hier, was dort mit dem „Überangebot“ erklärt wird, das auf die Gaspreise drücke.
Obwohl es für die hiesigen Hausbesitzer oftmals noch billiger ist, sich mit Heizöl statt Ferngas zu versorgen, hofft Gazprom, daß die Gaspreise bald wieder steigen werden, denn – so die Argumentation: Um den zunehmenden Bedarf sichern zu können, bedarf es der Erschließung neuer Gasfelder in Sibirien, aber die Investitionen dafür werden immer aufwendiger und teurer. Außerdem bekäme man für kurzfristige Lieferverträge nur schlecht Kredite. Wiederholt hätte Gazprom bereits als eine „Pseudobank“ agieren müssen – und Kredite aufgenommen, die in die eigene Bilanz übernommen wurden. Der Vorstandsvorsitzende der Wintershall AG, Detharding, nannte als Finanzbedarf: „In den nächsten Jahren – bis 2010 weitere 50 Milliarden Dollar“. Derzeit verbrauche Osteuropa jährlich 85 Milliarden Kubikmeter und Westeuropa 400 Milliarden, was sich auf 580 Milliarden erhöhen werde. Das Gas über große Entfernungen zu liefern, sei zwar effizienter als Strom zu transportieren, aber dies könne sich bald ändern. Bis zum Jahr 2007 ist in einigen EU-Ländern geplant, daß auch die Privathaushalte sich ihre Gaslieferanten aussuchen können. Bisher gilt die Marktwirtschaft nur für größere Industriebetriebe. Wenn erst die erstrittenen Durchleitungsrechte voll greifen, wird es auch ein neues „Preissystem“ geben. Außerdem wird es, für Kraftwerke etwa, noch eine zweite „Preisschiene“ geben – um ihrem möglichen Preisdiktat vorzubeugen.
Die ganze Branche formiert sich um, nicht nur im Osten. Der Gaz de France-Vorständler Deyirmendjian gestand: „Selbst in unseren wildesten Träumen haben wir uns eine derartige Veränderung nicht vorstellen können“. Zudem befindet sich auch noch das ganze gesetzliche Regelwerk in Bewegung und die einzelnen Länder gehen nicht einheitlich vor bzw. versuchen, die Fehler der anderen zu vermeiden. Dazu schickten die Hamburger Gaswerke z.B. extra eine attraktive Ingenieurin zum Ausspionieren der Privatisierungsfolgen bei „British Gas“ auf die Insel. U.a. kam sie dort zu der beruhigenden Erkenntnis: „British Gas Business Gas hat gelernt, daß es gefährlich und auch nicht notwendig ist, den fallenden Gaspreisen blind zu folgen. Kunden legen sehr viel Wert auf technische Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit“.
Während in Deutschland mit der Gazprom-Gründung Wingas der Gastransport-Wettbewerb begann, gibt es in England und Holland immer noch Transport-Monopole. Überhaupt wird es bei nur fünf Erdgas-Produzenten nie eine „richtige Marktwirtschaft“ in Europa geben – da waren sich viele Konferenzteilnehmer einig. Desungeachtet beziehen auch die Ostblockländer zunehmend Gas aus Norwegen, um nicht vollkommen von Gazprom abhängig zu sein, wobei umgekehrt im Osten wiederum die deutschen Konzerne – Ruhrgas, Wingas, VNG, RWE und die Bayernwerke – bei der Privatisierung der Infrastruktur heftig zulangen. In Budapest versuchte die Ruhrgas AG bereits die Regierung unter Druck zu setzen, damit sie die wegen der zunehmenden Armut festgesetzten Niedrig-Gaspreise endlich freigebe: so könne man nicht profitabel arbeiten. An der Wingas AG ist wie erwähnt der Gazprom-Konzern wesentlich beteiligt, an dem widerum die Ruhrgas AG 1998 2,5% Anteile erwarb – und demnächst weitere 1,5%. Die Ukraine gehört gasversorgungsmäßig quasi immer noch zu Rußland – sie tauchte jedenfalls in keiner Schau-Statistik des Kongresses gesondert auf.
Ein Sprecher von Thyssen-Gas machte auf den Widerspruch aufmerksam, daß man einerseits für bedarfssichernde Investitionen höhere Gaspreise verlange, andererseits aber gerade mit dem Auftritt von Wingas auf dem Markt den Gas-Preis gedrückt habe. Vielleicht war er da der Liberalismus-Propaganda aufgesessen. Für den Gazprom-Sprecher, Rezunenko, lag es jedenfalls eher an den „spezifischen Eigenschaften der Ware Gas“, das es in den letzten Jahren zu einem „Preisverfall trotz gestiegener Nachfrage“ kam. Auch der Wintershall-Vorstandsvorsitzende Detharding bestritt, daß seine Firma das bewirkt hätte, daran seien vielmehr – ganz allgemein – die „Marktgesetze“ schuld. Unbestritten gibt es derzeit eine Überproduktion! Aber warum will man dann weitere Großprojekte in Angriff nehmen? Und warum sieht man dabei die Gefahr einer Nichtfinanzierbarkeit bei immer kurzfristigeren Verträgen, wenn es doch stets hieß: Gerade die Liberalisierung werde das Geld anziehen?
„Denken wir kurzfristiger!“ rieten gleich mehrere Wingas-Kader – denn der Preis sei nun mal das „Schlüsselelement“ (bei der ganzen Geschichte). Und „der Preis wird immer durch die Nachfrage gerechtfertigt!“ Im übrigen könne es doch nicht darum gehen, jegliches Unternehmerrisiko zu vermeiden, vielmehr gelte es, vor allem „wettbewerbsfähig“ zu bleiben bzw. zu werden. Auch und gerade, wenn, wie ein Ruhrgas-Manager unkte, das Gas aus dem Iran, aus Turkmenistan und Kasachstan – mit Dumping-Preisen wohlmöglich noch – bald auch den Weg zu den hiesigen Märkten findet.
Der EU-Sprecher Burgos kam noch einmal auf die politischen Ziele, die mit der Gas-Richtlinie der EU verfolgt wurden, zurück: Es sollte damit ein (europäischer) Binnenmarkt geschaffen werden, wobei die Globalisierung ein „Instrument zum Agieren“ auf diesem neuen Markt sei – womit er die „globale Wettbewerbsfähigkeit“ der Gaskonzerne meinte, denn diese garantiere letztendlich die „Lieferungssicherheit“ – auch in Zukunft. An der EU sei es nun, die politische Stabilisierung der Förderländer weiter zu fördern sowie multilaterale Transitabkommen zu erleichtern. Und was den Gaspreis beträfe, so wisse man doch: „Dabei geht es wie bei allen Preisen zyklisch zu“ – also demnächst bestimmt auch wieder aufwärts! Ansonsten brauche der Gasunternehmer – laut Detharding – „nur drei Dinge“, um auch langfristig erfolgreich zu sein: „Gas, Pipeline und Kunden“.
Ein Sprecher von ELF Aquitaine/ Minol brachte die Situation auf die – sogleich auch von anderen aufgegriffene – Formel: „Der Geist ist aus der Flasche!“ – Und nun müsse man eben lernen, damit umzugehen. Sein Konzern z.B. habe sich vor allem auf den Upstream- Bereich (in der Nordsee) konzentriert, „aber nun wollen wir auch im Mid- und im Downstream-Bereich mitmischen“. DerWintershall-Chef Detharding verlangte: „Wir müssen das Denken ändern, um mit der Liberalisierung fertig zu werden“. Robert Priddle, von der Internationalen Energieagentur, ergänzte: „In der Vergangenheit gab es bequeme Interessens-Identitäten“. Nun häufen sich zwar die „Unsicherheiten“, aber ein „offener Markt muß nicht zwangsläufig zum Nachteil der Lieferanten sein“. In England habe man seinerzeit aus dem staatlichen zunächst ein privates Monopol gemacht, das sei jedoch keine gute Idee gewesen, „weil die Privaten noch viel rigoroser sind: Wir müssen Wettbewerb schaffen. Der Besitz ist nicht so wichtig wie der Wettbewerb“.
Und dabei werden Partner und Gegner im Endeffekt identisch – ein französischer Öl-Manager erinnerte daran: „Früher hat jede Company ihre eigenen Terminals gehabt“ – jetzt kooperiere man bei der Logistik zunehmend sogar mit der Konkurrenz. So könne man flexibler auf steigende Kapazitäten reagieren.
Abschließend erinnerte der Gazprom-Konferenz-Organisator Müller-Elschner (von Wintershall) noch einmal seine Kollegen und Konkurrenten daran: „Wir haben einen bequemen Markt – mit breiten Perspektiven. Die Firmen haben in der Vergangenheit viel Geld verdient. Und werden das wohl auch in Zukunft tun. Wir haben ein gutes Produkt – mit geringen C02-Emissionen“…
Das letzte Wort hatten die Gazprom-Kader. Einer präzisierte die ökologische Perspektive: „Das Gas ist nach dem Wasser der umweltschonendste Energieträger. Der Umweltschutz wird sich zwangsläufig auf den Erdölpreis niederschlagen, bzw. den Gasabsatz verbessern, zumal in Deutschland, wenn man dort aus der Atomenergie aussteigt“. Dadurch würde auch der Rückfluß der Investitionskosten gesichert sein. Ein anderer hub zunächst aus der Tiefe des sowjetischen Politjargons an: „Wir haben eine große historische Aufgabe am Ende des 20. Jahrhunderts zu erfüllen“ – endete aber dann – mit dem Seufzer: „Gott hat es so gefügt – zu unserem Glück oder Leid, daß das Gas in Europa gebraucht wird, aber sich in Sibirien befindet“.